Qntal I
Feature im Zillo Musikmagazin 1993

Nachdem Deine Lakaien im letzten Jahr zu den Senkrechtstartern der deutschen Indieszene und zu einem der beeindruckendsten und gefragtesten Liveacts avanciert waren, widmeten sich Sänger Alexander Veljanow und der musikalische Kopf Ernst Horn anderen Projekten. Während Alexander der Berliner Formation Run Run Vanguard zwar seine Stimme lieh, der aber eher gitarrenorientierte Sound von RRV wenig mit den Deine-Lakaien-Klangbildern gemeinsam hat, gestaltet sich die Konstellation bei Ernst Horns mit Spannung erwartetem Qntal-Projekt schon Lakaien-verwandter. Neben der Sängerin Sigrid Hausen, die zuvor beim Ensemble Estampie Erfahrungen mit mittelalterlichem Gesang gemacht hatte, gehört nämlich auch Michael Popp, der Deine Lakaien mit mittelalterlichen Instrumenten bei deren Live-Gigs unterstützte, zu der Band, die sich die ambitionierte Aufgabe gesetzt hat, mittelalterliche Texte in einer Symbiose aus ebenfalls mittelalterlichen musikalischen Harmonien und modernen elektronischen Ausdrucksmitteln zu präsentieren.

Ernst und Michael kamen nach einer Theaterproduktion in München zusammen, in der Michael Mittelaltermusik spielte und noch nicht bei den Lakaien als Live-Musiker tätig war. Nachdem das Konzept grob vorgezeichnet war, nämlich Ernst Horns elektronische Musik mit Michaels mittelalterlicher zu verbinden, stieß Sigrid, die überdies noch den Bandnamen geträumt hat, als Spezialistin für mittelalterlichen Gesang dazu.

Musikalisch wirkt das Qntal-Debüt dann auch oft wie eine bewusste Formulierung von Gegensätzen, während die mittelalterlichen Texte durchaus in mancherlei Hinsicht sehr aktuelle Bezüge aufweisen.

„Natürlich gibt es starke Parallelen zwischen Mittelalter und der heutigen Zeit, aber auch riesige Unterschiede“, meint Ernst. „Barbara Tuchmann hat das mit dem Begriff ‚the distant mirror‘ (der ferne Spiegel) für mich richtig ausgedrückt. Diese Nähe und Ferne gleichzeitig zwischen den beiden Epochen, das ist, was ich so spannend finde.“

Die ständig sich verschiebende Grenze zwischen mittelalterlicher Nostalgie und aktueller Gültigkeit beruht sicher auch auf der ausgesuchten Thematik der Songs, die aus Sicht einer Frau das ewig menschliche Nachsinnen über Liebe, Leidenschaft und Tod reflektieren. Dennoch warnt Michael davor, vordergründige Parallelen zwischen damals und heute zu ziehen.

„Die Menschen im Mittelalter hatten doch einen ganz anderen geistigen und kulturellen Background, so andersartig, dass man ihn heute kaum noch nachvollziehen kann. Trotzdem gibt es dann, wenn du mittelalterliche Songtexte liest, plötzlich so ein Gefühl von Aktualität, und alles wird verständlich. Das ist wahrscheinlich das Besondere an ‚großen Themen‘ wie Liebe, Tod und Leidenschaft. Sie bleiben über die Epochen hinweg im Kern die gleichen. Nur geht man immer wieder verschieden damit um.“

Ein Vergleich, der sich nahezu aufdrängt, scheint sich im engen Zusammenhang zwischen der Willkürlichkeit des Todes, sowohl im Mittelalter durch die Pest, als auch in der heutigen Zeit durch AIDS, zu thematisieren. Und mit dem über zehnminütigen Schlusssong „Black Death“ wird mit der schwarzen Pest auch ganz bewusst auf AIDS angespielt, abgesehen davon, dass das Lied der New Yorker Disco „Jackie 60“ gewidmet ist, die 1992 auf dem „Atonale“-Festival in München eine Aufsehen erregende Performance zum Thema AIDS präsentierte.

Michael, vor oberflächlichen Vergleichen warnend, betont aber auch, dass Gefahren für Leib und Leben für den mittelalterlichen Menschen weitaus stärker erfahrbar waren.

„Die Lebenserwartung lag höchstens bei 35 Jahren. Das bedeutet, dass die Menschen damals den unerwarteten Tod viel stärker in den Alltag mit einbezogen haben. Das eigene Leben haben viele als wertlos oder eine beschwerliche Last empfunden und den Tod geradezu herbeigesehnt. Das ist auch in der Kunst zum Ausdruck gekommen.“

Vergegenwärtigt man sich das differenziert ausgearbeitete Konzept, offenbart sich „Qntal“ als komplexes, wohldurchdachtes Werk, in dem Sigrid mit ihrem faszinierenden Gesang quasi die mittelalterliche Konstante darstellt, der musikalische Rahmen sich dem aber mal nach Harmonie strebend mit adäquaten Mitteln anpasst („Un vers de dreyt nien“, „Sanctus“), sich teilweise mit ihm in Lakaien-Manier auf elektronisch-akustische Weise verbindet („Por mau tens“, „Floris e Blauchaflor“) oder ihn mit vordergründig tanzorientierten Rhythmen stark kontrastiert ( im ersten Teil von „Black Death“, „Ad mortem festinamus“).

Obgleich die musikalische Zukunft von Qntal ungewiss scheint, hoffe ich, dass sich der ungewöhnliche und vielschichtige Ausdruck, der sich in diesem Projekt als so innovativ erwiesen hat, über weitere Produktionen erstrecken mag.

Dirk Hoffmann

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