Oft genug wird Kunst von der Realität eingeholt. Und manchmal geschieht dies schneller, als es einem lieb ist. Denn während Ernst Horn am Telefon über seine jüngste Neuinterpretation des „Baghdad“-Themas plaudert, rücken US-Truppen am Tigris in die entmilitarisierte Zone vor. Entsprechend zornig klingt der sonst so fröhlich gestimmte Münchner.
„Da marschieren die wirklich in ein Land, das eh schon am Boden liegt. Diese ganze Entwaffnung galt vermutlich auch dem Ziel, es den Amis so leicht wie möglich zu machen. Damit versuchen sie ein großes Unrecht zu rechtfertigen. Aber bei dem Komplex-beladenen George Bush jr. wundert mich nichts mehr. Der ist ja noch primitiver als sein Papa. Man könnte fast meinen, er wäre dessen Karikatur.“ Zynische Worte, wenn man bedenkt, dass sich Ernst Horn bereits bei seinem 1991er-Album „The Skies Over Baghdad“ mit der Golfkrise auseinander gesetzt hat. „Das stimmt. Aber da war die Situation auch noch etwas anders. Die Annexion von Kuwait hat mich damals wirklich beängstigt, denn es wusste ja niemand, was der Hussein als Nächstes vorhat. Heute werden die Medien viel stärker verschleiert, damit niemand merkt, dass George W. eigentlich nur das Trauma seines Vaters beseitigen will.“
Doch obwohl die CD „Lili Marleen, Baghdad, 02’91“ erschreckend aktuelle Züge bekommt, ist sie ja das Resultat eines Auftritts auf dem Münchner Digitalanalog-Festival im letzten Jahr. „Das war eine Zusammenkunft der Elektronik- und Technoszene. Ein idealer Rahmen, um zu experimentieren. Zufällig war das Golf-Thema ja letzten Herbst schon aktuell. Außerdem wollte ich mit Qntal schon einmal diese Thematik mit den Kreuzzügen verknüpfen.“ Das erklärt den Einsatz altportugiesischen Liedguts, das von der Helium-Vola-Stimme Sabine Lutzenberger das halbstündige Klangwerk ergänzt. „Wenn die Opfer eines Krieges beklagt werden, ist immer zuerst von Zivilisten, Frauen und Kindern die Rede. Dass ein Soldat auch ein Mensch ist, der meist nicht mal aus eigenem Antrieb handelt, wird dabei oft vergessen. Aber dieser Soldat hat ja vielleicht auch eine Freundin, die zu Hause sitzt und wartet. Und die portugiesischen Texte handeln von einer Frau, die aufs Meer blickt und ihren Geliebten herbeisehnt.“
Der Titel „Lili Marleen“ scheint diese Interpretation zu stützen, obwohl der Schlager im 2. Weltkrieg auch Symbol für die Fronten übergreifende Macht der Musik gewesen ist. „Darum geht es hier aber nicht. Es ist tatsächlich das Bild der wartenden Soldatenbraut. Mir war es einfach wichtig, auch mal ein Einzelschicksal hervorzuheben. Meine persönliche Meinung zu diesem Krieg sollte ursprünglich gar keine Rolle spielen und hat es bei den Aufnahmen von 1991 auch nicht. Im Moment würde ich wohl eher ein richtiges Hass-Ding machen … mit Schweinegrunzen oder so.“ Satt dessen werden die alten Präsidenten-Samples durch Beiträge von George jr. ergänzt. „Man merkt schon, wie sich der Ton verändert hat. Die USA gehen heute mit ihrer Macht viel egoistischer um. Seit ihrem Afghanistan-Schlag sind sie irgendwie übermütig geworden.“ Ergänzt werden die Sprachsamples durch Auszüge aus dem altem Hildebrandslied. „Das ist eine inhaltliche Ergänzung. Das Lied beschreibt den Konflikt zwischen Vater und Sohn. Ich habe nur die Zeilen herausgenommen, in denen sich beide für den Kampf rüsten. Außerdem passt der archaische Klang des Althochdeutschen sehr gut dazu.“
Wie immer eine anspruchsvolle Herangehensweise, die das Ganze aber auch ganz schön überfrachtet. „Jaaa“, entgegnet Ernst zögerlich, „sicher ist das etwas sehr Spezielles, hat vielleicht eher Hörspiel-Charakter. Aber was soll’s, meine Solosachen sind ja nichts für die breite Masse. Den emotionalen Anspruch versteht man wohl schon. Und das reicht mir.“ Fürwahr bescheidene Worte des Musikers, der schon auf dem letzten Album von Deine Lakaien mit „Hands White“ ein Statement zur Gewalt abgegeben hat. „Mir imponiert Gewaltlosigkeit bei Demonstrationen. Ich habe selbst an zahlreichen Demos teilgenommen, und dabei ist mir oft eine sehr primitive Gewaltbereitschaft aufgefallen. Ich glaube an die Kraft von gewaltfreiem Protest.“
Elmar Klemm - ZILLO 5/2003